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                    „Wenn keiner meine Schreie hört, versteh’ ich nicht, 
                    was euch an meinem Schweigen stört.“ Die Worte des Jungen 
                    schrammten mir wie ein Ohrwurm durchs Hirn. Sicher, ich hätte 
                    ihn nicht besuchen müssen, aber ich konnte es der Mutter 
                    nicht länger abschlagen. Wie viele Tage waren es nun 
                    schon, dass sie kam, sich draußen ins Wartezimmer setzte, 
                    mit keinem der anderen Berater sprechen wollte, nur den Kopf 
                    schüttelte, sobald sie angesprochen wurde, mit gesenktem 
                    Blick eine lasche Handbewegung in Richtung meiner Bürotür 
                    machte, einfach dasaß, bis ich sie hereinbat, hereinbitten 
                    musste.
                    „Hüsniye 
                    Hanim, bitte schön, nehmen Sie Platz.“
                    „Danke, meine Liebe.“
                    Dann saß sie vor mir, saß breit auf dem unbequemen 
                    Stuhl, der bunte Rock fiel ihr über die Knöchel 
                    bis auf die Plastikschuhe, mit ihren aufgedunsenen, roten 
                    Fingern knetete sie die Handtasche durch. Ich ertrug den Anblick 
                    kaum.
                    „Hüsniye Hanim, ich weiß wirklich nicht, was ich 
                    noch tun kann …“ Nachdem ich sie an den ersten Tagen gebeten 
                    hatte, einfach zu erzählen, sich alles vom Herzen zu 
                    reden, war das nun
                    meine Standardformel. Sie hatte erzählt, hatte sich vieles 
                    vom Herzen geredet, hatte geklagt, angeklagt, hatte geweint, 
                    stundenlang, während sie redete, hatte auch geschwiegen. 
                    Der Junge saß in U-Haft, die Tochter war tot, was konnte 
                    ich da noch tun?
                    …
                    Erst nach diesem Besuch fing die Sache an, mich zu interessieren. 
                    Das Gejammer der Mutter hatte mich lange auf Distanz schalten 
                    lassen. Es gehörte zu meinem Job, weinende Frauen in 
                    den Arm zu nehmen, zu trösten, „Wird schon wieder“ zu 
                    sagen und sie an irgendwelche kompetenten Stellen weiterzuvermitteln, 
                    wissend, dass nichts wieder wurde, wie die meisten es sich 
                    wünschten, schon, weil es eigentlich niemals so gewesen 
                    war. Allein, dass jemand ihnen zuhörte, dass sie ernst 
                    genommen wurden, half ihnen oft schon, den Alltag der nächsten 
                    Tage, Wochen, Monate, des weiteren Lebens eben, zu überstehen. 
                    Es war auch normal, dass die Frauen immer wieder kamen, selbst 
                    wenn die Angelegenheit, die sie einst den Weg zu uns hatte 
                    beschreiten lassen, längst geregelt war. Nach dem ersten 
                    Gespräch nahmen sie mich in den Arm, wenn ich ihnen die 
                    Hand zum Abschied reichte. Beim zweiten Mal küssten sie 
                    mich schon beim Hereinkommen und nach dem dritten Gespräch 
                    gehörte ich sozusagen zur Familie. Ob mir das passte 
                    oder nicht. Für all dieses Drumherum gab es keinerlei 
                    Posten im schönen Abrechnungssystem der Behörde, 
                    wo für jeden Klienten minutiös aufgeführt werden 
                    musste, wie lange man was mit ihm oder ihr besprochen hatte, 
                    was konkret unternommen wurde, ob man die Person weiterverwiesen 
                    hatte, wenn ja, wohin und ob die Person auch dort angekommen 
                    war, Erfolgsquotient, ob mit einem Folgebesuch zu rechnen 
                    war … Fünfzehn Minuten pro Person galten als viel. Wie 
                    sollte ich die zwei bis drei Stunden verbuchen, die manche 
                    Frauen bei mir saßen?
                    …
                    „Ehrenmord!“ Ich stützte den Kopf in die Hände. 
                    Das Wort war Mutter und Sohn tausendfach um die Ohren geschlagen 
                    worden. Als der Junge verhaftet wurde, als die Nachbarn davon 
                    erfuhren, als Bahars Ausbilder davon hörten. Selbst Axel, 
                    mein sozialpädagogisch versierter Chef, hatte letztendlich 
                    mit den Schultern gezuckt und Songül, die mit allen Multikulti-Wassern 
                    der letzten zwanzig Jahre gewaschene Inhaberin der Stelle, 
                    auf der ich hier vertretungshalber saß, hatte ungewohnt 
                    resigniert die Hände in Schulterhöhe gehoben und 
                    gemurmelt: „Was soll man da noch machen?“ Ehrenmord. Die Sache 
                    war doch klar: Bahar hatte sich ehrenrührig benommen, 
                    hatte sich heimlich mit dem Zivi aus dem Haus der Jugend getroffen. 
                    Der Bruder hatte sie einmal verwarnt, vielleicht auch zweimal, 
                    vielleicht auch keinmal. Nein, so einer warnt nicht, der sticht 
                    gleich zu. Kennt man doch. Na ja, zugestochen hatte er nicht. 
                    Es hatte gebrannt, im Haus der Jugend, die Tür zum Materiallager 
                    war verschlossen gewesen, als es brannte. Bahar und der Zivi 
                    waren drinnen gewesen.
                    Nun saß der Junge und schwieg zur Tat. Allen, denen 
                    sie begegnete, ob sie es hören wollten oder nicht, jammerte 
                    nun die Mutter vor: „Mein Junge war’s nicht. Mein Junge hat 
                    das nicht getan …“ Der Polizeipsychologe sah keinen Betreuungsbedarf, 
                    der psychosoziale Dienst für Migranten hatte aufgegeben, 
                    bevor man sich der Sache richtig angenommen hatte. So saß 
                    Hüsniye also täglich ein paar Stunden bei mir im 
                    Büro.
                    Jedes Mal bat sie mich, sie zu Hause zu besuchen, damit wir 
                    ungestört weiterreden könnten. Sie würde mir 
                    Tee kochen, wollte Suböregi machen, sie wusste, dass 
                    ich diese arbeitsaufwändige Pastetenart besonders liebte, 
                    oder Sarma, gefüllte Weinblätter, sie kannte meine 
                    kulinarischen Schwächen genau. Höflich, aber bestimmt 
                    lehnte ich ab. Einmal, zehnmal, hundertmal. … 
                    Doch nachdem ich nun den Jungen gesehen hatte, musste ich 
                    auch sein Zuhause sehen. Ich kannte sie alle: Die Mutter Hüsniye 
                    am besten und am längsten, auch Bahar, die Tochter, die 
                    vier, fünf Jahre alt gewesen war, als Hüsniye sie 
                    zum ersten Mal in der Kinderbetreuung vom Deutschkurs abgegeben 
                    hatte. Und Burak, den Sohn, fünf Jahre jünger als 
                    seine Schwester, der nun älter werden würde, im 
                    Gefängnis, in Abschiebehaft, in der Türkei, dem 
                    Land, das er, der in Wilhelmsburg geboren war, nur aus dem 
                    Sommerurlaub kannte. Ich würde Hüsniye besuchen. 
                    Ich würde eine Ausnahme machen, ich hatte angebissen, 
                    und Hüsniye wusste das vermutlich …