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                türkische Schriftsteller Orhan Pamuk und seine Stadt Ein 
                ganzes Leben in Istanbul Der 
                türkische Schriftsteller Orhan Pamuk bekam 2006 den Nobelpreis 
                für Literatur, zugleich erschien sein neues Buch Istanbul-Erinnerungen 
                an eine Stadt in deutscher Übersetzung von Gerhard Meier. 
                Pamuk berichtet darin aus Kindheit und Jugend in einer schwierigen 
                Familie und beschreibt  vor 
                allem den Wandel seiner Heimatstadt am Bosporus. Zerzaust 
                und dünn muss der kleine Orhan gewesen sein, als der Koch der 
                Großmutter ihm den Spitznamen "Krähe" gab, mit dem er 
                dann jahrelang in der Familie gerufen wurde. Die große Familie 
                mit der Großmutter, Onkeln, Tanten und Cousins lebte damals, zu 
                Beginn der 1950er Jahre, im "Pamuk Apartmanı", 
                einem neu gebauten Wohnhaus mit fünf Stockwerken im Istanbuler 
                Stadtteil Nişantaşı. Orhan wohnte mit den Eltern 
                und seinem Bruder Şevket im vierten Stock. In jeder Etage 
                standen Klaviere, aber Orhan hörte nie, dass jemand darauf spielte. 
                Riesige verzierte und verschnörkelte Sessel, Büfetts, vollgestopfte 
                Vitrinen, Lesepulte, Wandschirme und tausenderlei Dinge standen 
                in den Wohnzimmern herum. Sie kamen dem Jungen wie ein Museum 
                vor. Zum gemütlichen Familienleben dienten sie jedenfalls nicht. 
                So waren viele Jahrzehnte lang die meisten Wohnzimmer wohlhabender 
                Familien in der Türkei eingerichtet, bis in den siebziger Jahren 
                das Fernsehen Einzug hielt. Jetzt verwandelten sich die Wohnzimmer-Museen 
                in Kinos, wo sich die ganze Familie versammelte, um sich zu unterhalten, 
                zu lachen und natürlich um gemeinsam Filme oder Nachrichten zu 
                schauen.  Im 
                Obergeschoss wohnte die Großmutter. Vormittags saß sie im Bett, 
                Kissen in den Rücken gestopft. Der Koch Bekir setzte ihr ein Silbertablett 
                mit dem Frühstück vor, und sie las Zeitung und empfing Besucher. 
                Bevor Orhans Onkel und Tanten zur Arbeit gingen, kamen sie alle 
                kurz bei ihr, dem Oberhaupt der großen Familie, vorbei. Wenn Orhan 
                die Großmutter besuchte, küsste er ihr zur Begrüßung die Hand. 
                Als er größer war und sie besuchen kam,  steckte sie ihm Geld zu. In ihr Heft schrieb 
                sie dann zum Beispiel: "Mein Enkel Orhan hat mich besucht. 
                Er ist ein kluger, lieber Kerl. Hoffentlich wird er einmal sehr 
                erfolgreich und verhilft dem Namen Pamuk zu soviel Ruhm wie sein 
                Großvater." Sie hatte in ihrer Jugend Geschichte studiert 
                und dafür gesorgt, dass alle ihre Enkel Namen von osmanischen 
                Sultanen bekamen. Orhan lebte 1281-1360 und war einer der ersten 
                Sultane in der Anfangszeit der Osmanen, deren Reich der Vorläufer 
                der heutigen Türkei war. Zwischen 
                Orhans Eltern herrschte oft Streit, der Vater war viel auf Reisen 
                und die Familie zog häufig um. Manchmal wurden die Kinder zeitweise 
                bei Verwandten untergebracht. Bei einer Tante hing ein Bild aus 
                einem Kalender an der Wand. Darauf war ein Junge mit einer Mütze, 
                wie der kleine Orhan sie auch oft trug. "Schau, das bist 
                du!", sagten Onkel oder Tante  lächelnd, und er fand wirklich, dass der andere 
                Junge ihm ähnlich sah. Ob es wohl noch einen zweiten Orhan gab? 
                Manchmal träumte er von Orhan Nummer zwei und wenn er unglücklich 
                war, stellte er sich vor, dass er in ein anderes Haus, in ein 
                anderes Leben gehen würde, genau dorthin, wo der andere Orhan 
                lebte, der bestimmt viel glücklicher war als er selbst. Eingeschult 
                wurde Orhan in einem ehemaligen Konak: einer prächtigen Villa 
                aus Holz, die von einem osmanischen Prinzen erbaut worden war. 
                Als Orhan 1952 geboren wurde, gab es das Osmanische Reich schon 
                seit dreißig Jahren nicht mehr und Istanbul hatte rund eine Million 
                Einwohner. Die von Prinzen, Wesiren (Ministern) und Paschas (hohe 
                Beamte) gebauten Konaks hatten längst ihre Besitzer gewechselt. 
                Die meisten dieser großen Holzbauten brannten ab oder verfielen 
                so weit, dass die Reste abgerissen werden mussten. Heute stehen 
                nur noch ganz wenige in Istanbul, wo jetzt fast 15 Millionen Menschen 
                leben. Auch Orhans Schulhaus brannte ab und sogar das Konak, in 
                dem er danach zur Schule ging, wurde vom Feuer zerstört. Immer 
                wieder sah Orhan auf beiden Seiten vom Bosporus, der Istanbul 
                in einen europäischen und einen asiatischen Teil spaltet, schöne 
                alte Holzhäuser niederbrennen. Der 
                Ort, an dem die Leute aus dem Viertel ihren Klatsch austauschten, 
                war ein Lebensmittelgeschäft unten in dem Haus, in dem Orhan wohnte. 
                Der Krämer war Grieche wie die meisten Nachbarn. Wer etwas brauchte, 
                ließ von seinem Fenster einen Korb an einem Strick herab und brüllte 
                seine Bestellungen hinterher. Orhans Mutter mochte nicht brüllen, 
                sondern legte einen Bestellzettel in den Korb. In 
                der Schule war Orhan ein richtiger Streber, er meldete sich immer, 
                sogar, wenn er die Antwort gar nicht wusste. Aber die Lehrerin, 
                die er als Grundschüler sehr bewunderte, nahm ihn nur selten dran. 
                Bei Pamuks zu Hause gab es keine straffen Regeln, so dass der 
                kleine Orhan bei der Lehrerin zum ersten Mal Strenge erlebte. 
                In der Familie war Religion kein Thema,  doch für die Lehrerin fastete Orhan einmal und 
                die Mutter bereitete ihm eine besondere Mahlzeit zum Fastenbrechen 
                am Abend zu. Während gläubige Muslime aber jedes Jahr einen Monat 
                lang fasten, reichte dem kleinen Orhan dieser eine Tag. Wenn 
                andere Schüler länger für eine Aufgabe brauchten, langweilte er 
                sich. Dann schaute er aus dem Fenster und träumte sich nach Hause 
                oder in die Stadt hinein. Kaum hatte er das Alphabet gelernt, 
                sprang in seinem Kopf die  "Lesemaschine" an: Er las alles und 
                überall, von vorne und von hinten. NEKCUPS NEDOB NED FUA TCHIN 
                zum Beispiel las er auf den  Gehwegplatten 
                vor einem Regierungsgebäude, während er von einer Platte zur anderen 
                hüpfte. Am liebsten hätte er gleich auf den Boden gespuckt, aber 
                er fürchtete sich vor den Wachpolizisten vor dem Haus. Auch in 
                der Zeitung der Großmutter las er: ERSTE TÜRKISCHE BALLETTSCHULE. 
                AMERIKANER KÜSST AUF DER STRASSE TÜRKIN. HULA-HOOP-REIFEN AUF 
                DER STRASSE VERBOTEN. Am 
                liebsten waren Orhan die Wohnungen, von deren Fenstern man durch 
                Schornsteine, Dächer und Minarette hindurch den Bosporus sah. 
                Da konnte er ungestört Schiffe zählen: rumänische Öltanker, russische 
                Kreuzer, türkische Fischkutter, bulgarische Passagierschiffe, 
                italienische Ozeandampfer, Frachter aus aller Herren Länder. Nur 
                kleine Motor- und Fischerboote und die städtischen Dampfer zählte 
                er nicht. Er glaubte, Katastrophen werden von Dingen ausgelöst, 
                die ungezählt und ungeordnet sind. Doch eines Nachts weckte ein 
                lauter Knall die Familie: Mitten auf dem Bosporus waren zwei Tankschiffe 
                zusammengestoßen, explodiert und brannten. Da war Orhan acht. 
                Die Familie fuhr mitten in der Nacht ans Ufer. In die schaulustige 
                Menge in Pyjamas mischten sich Straßenhändler, die Getränke und 
                allerlei Snacks anboten.  Mit 
                dem Schulbeginn hatte Orhan sein Talent zum Malen und Zeichnen 
                entdeckt und die Familie förderte ihn kräftig. Bald wussten alle, 
                dass der kleine Orhan einmal ein großer Architekt werden würde. 
                Er begann später auch wirklich ein Architekturstudium. Doch er 
                merkte schnell, dass er eigentlich gar keine Lust dazu hatte, 
                viel wichtiger als Malen wurde für ihn das Schreiben und er beschloss, 
                Schriftsteller zu werden. © 
                Sabine Adatepe 2007-2010  |  |  |  |  |  |  |